Sankt Anton und Davos zählen zu den traditionsreichsten Wintersportorten der Alpen. Doch wie lange können sie das Skifahren noch als Massenvergnügen anbieten und damit dem Klimawandel mit Wärmeeinbrüchen zur Hochsaison, Gletscherschmelze und zurückgehendem Schneefall trotzen? Und wie begegnen die Destinationen einem stagnierenden Skifahrermarkt, steigendem Kostendruck und einem grünen Gewissen, das immer mehr Winterurlauber zwackt? Ein Gastbeitrag von Susanne Böllert.
Das Armenhaus Europas, das waren lange Zeit die Alpen. Mühevoll mussten die Menschen der Natur in kurzen Sommern ausreichend Vorräte abringen, um lange, strenge Winter zu überstehen. Das Museum Sankt Anton am Arlberg beleuchtet mit dem harten Los der „Schwabenkinder“ einen der ärgsten Auswüchse dieser Not: Bis zum Ersten Weltkrieg mussten sich Tausende Kinder jeden Sommer als billige Arbeitskräfte bei den Bauern im Schwabenland verdingen, um den Eltern nicht zur Last zur fallen. Heimweh und Ausbeutung bestimmten ihre Zeit in der Fremde.
Ebenso prominent setzt das Museum eine Entwicklung von Ende des 19. Jahrhunderts in Szene, die das „Armenhaus“ in kurzer Zeit in den Sehnsuchtsort vieler Städter wandelte: der Tourismus, vor allem der Wintertourismus. Yannick Rumler vom Tourismusverband Sankt Anton erklärt, wie aus den abgeschiedenen Bergbauerndörfern des Stanzertals im Westen Tirols eine der modernsten und größten Tourismusregionen werden konnte: „Als 1884 nach vier Jahren Bauzeit der 13 Kilometer lange Arlbergtunnel sowie die Arlbergbahn in Betrieb genommen wurden, gelangten die ersten Gäste ins Tal, vor allem aus England. Die sind uns bis heute geblieben.“
Das erste Paar Skier im Gepäck hatte indes ein norwegischer Tunnelbau-Ingenieur. 1885 wurden die ersten Skiläufer am Arlberg gesichtet, besser gesagt argwöhnisch beäugt. Keine 30 Jahre später, im Januar 1901, gründeten die Arlberger einen Skiclub, den ersten der Alpen. Der ist heute mit 9000 Mitgliedern aus fast 60 Ländern einer der größten weltweit. 1921 folgte die erste Skischule der Welt. Heute wirbt Ski Arlberg mit dem Label „Wiege des alpinen Skilaufs“ für sich und ist mit 300 Pisten- und 200 Off-Piste-Kilometern das größte zusammenhängende Skigebiet Österreichs. Damit erfüllt es eines der entscheidenden Kriterien, nach denen viele Wintersportler ihre Urlaubsdestination auswählen: Je größer, desto begehrter.
Mitte Januar geht‘s auf den teils recht steilen Pisten erwartungsgemäß ordentlich zu. So wie im 2.300-Einwohner-Ort Sankt Anton selbst, der zu Spitzenzeiten 11.000 Touristen unterbringt. Vom gefürchteten Januar-Loch ist hier nichts zu merken. Von Frust an der Kassa (das Tagesticket gibt’s für stolze 75 Euro, sieben Tage kosten 450) auch nicht. Berappt wird das Geld jedenfalls trotzdem. „Wir haben das Vor-Corona-Niveau fast schon erreicht“, erklärt Arthur Moser, Prokurist der Arlberger Bergbahnen, „die Nächtigungen im Dezember 2023 haben die des Vorjahresmonats übertroffen.“ Wobei knapp ein Drittel der Besucher aus Deutschland stammt, ein weiteres aus den Niederlanden und sich in den Top 10 Engländer, Skandinavier, Amerikaner und Australier tummeln.
Einer, der diese Entwicklung kritisch sieht, ist Kulturgeograph Werner Bätzing. „Die Überalterung Europas und die fehlende Wintersport-Affinität vieler Menschen mit Migrationshintergrund lassen den Skifahrermarkt in den Alpen stagnieren und in Zukunft sogar schrumpfen. Das führt zu einem aggressiven Verdrängungswettbewerb unter den Anbietern, die durch Zusammenschlüsse und ständige Vergrößerungen den Wunsch nach mehr Pistenkilometern zu befriedigen suchen.“ Diese Aufrüstungsspirale habe einerseits zu einer totalen Überformung der Landschaft geführt, sagt der renommierte Alpenforscher, „andererseits sind dem Gigantismus in den letzten 20 Jahren mehrere hundert kleine Skigebiete zum Opfer gefallen, die sowieso schon mit Schneemangel aufgrund der Klimaerwärmung zu kämpfen hatten.“ Auch den Trend, rückläufige Skifahrerzahlen aus Europa vermehrt mit Gästen aus Asien, ganz besonders aus China, kompensieren zu wollen, lehnt Bätzing ab: „Um auf dem chinesischen Markt Fuß zu fassen und, solange Skifahren in den Alpen noch möglich ist, einen möglichst großen Anteil vom Kuchen abzubekommen, wird weiter aggressiv ausgebaut.“ Insgesamt zählt Statista aktuell noch über 1.600 Gebiete mit mehr als 11.000 Liften im Alpenraum.
Ortswechsel: Davos Klosters. Weite, menschenleere Pisten, über die sich ein strahlender Graubündner Himmel spannt. Das ungewohnt einsame Carven auf 253 hochalpinen Pistenkilometern, ist sicher nicht den Schnäppchenpreisen zu verdanken, zumal der Tagespass mit umgerechnet 91 Euro noch teurer ist als im angrenzenden Tirol. Wer online bucht, spart immerhin zwei Franken und kann von Rabattaktionen am Saisonende profitieren. Dass kaum etwas los ist, liegt allein am Zeitpunkt: In der zweiten Januarwoche sind die Weihnachtsferien vorüber und halten die Vorbereitungen für das Weltwirtschaftsforum die höchstgelegene Stadt Europas, das kleine Davos, auf Trab. Der wohl beste Zeitpunkt fürs Skifahren in der von Mitte November bis Ostern dauernden Saison.
Generell seien keine Besucherrückgange zu verzeichnen, betont Andreas Stoffel von Davos Klosters. „Eher im Gegenteil. Aufgrund unserer Schneesicherheit, modernen Infrastruktur und einfachen Anreise haben wir sicher einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Mitbewerbern.“ Vielleicht wirken aber auch 150 Jahre Wintersporttradition nach. So ist man in Davos stolz auf einen Hockey Club von 1921 und den international bekannten Spengler-Cup. Auch auf den Ankerlift Bolgen am Jakobshorn weisen die Davoser ihre Gäste gerne hin, ist er doch der erste Schlepplift der Welt und seit 1934, zwar erneuert, noch immer an derselben Stelle in Betrieb. Wie Sankt Anton gehört der Schweizer „Pionierort des Wintersports“ zum Zusammenschluss Best of the Alps, in dem zehn klassische Destinationen aus fünf Ländern, darunter Garmisch-Partenkirchen, Synergien bündeln. Neuerdings auch im Bemühen um Nachhaltigkeit.
Die Preissteigerung bei den Skitickets seit 2019 von bis zu zehn Prozent erklärt Martina Walsoe mit der Inflation, steigenden Kosten für Personal, Strom und Pistenmanagement. „Schon seit 15 Jahren investiert die Bergbahn stark in Klimaschutz, Ressourcen-Einsparungen und verbesserte Beschneiungstechnik, doch erst jetzt kommuniziert man dies auch“, sagt die Projektleiterin „Erneuerbare Energien“ von Davos Klosters Bergbahnen. Schließlich legten immer mehr Gäste Wert auf Umweltschutzmaßnahmen und machten ihre Buchungsentscheidung davon abhängig.
„60 Prozent der Energie für die Beschneiung am Jakobshorn erzeugen wir bereits selbst“, gibt Walsoe ein Beispiel, „zwei Wasserkraftwerke produzieren jährlich 800.000 kWh Strom, den Jahresverbrauch von 200 Haushalten.“ Der Clou: Genutzt werden die vorhandenen Leitungen und Wasser aus höher gelegenen Speicherseen – eine Infrastruktur, die maximal zwei Monate im Jahr für die Herstellung technischen Schnees gebraucht wird. Zusätzliche bauliche Eingriffe in die Natur werden vermieden. Ein weiteres Kleinwasserkraftwerk am Rinerhorn soll ab Sommer zusätzliche 1,2 Mio. kWh nachhaltigen Strom herstellen. Das Unternehmensziel: 100 Prozent des Energiebedarfs aus eigenem Ökostrom zu decken. Ein wichtiger Schritt dahin ist der „Masterplan Solarenergie“, der bis 2027 eine Investition von 10 Millionen Franken in den Ausbau der Photovoltaik vorsieht. Von den 40 vorgesehenen PV-Anlagen auf Dächern und Fassaden von Bergrestaurants sowie Tal- und Bergstationen ist bereits die Hälfte realisiert.
Zeit wird’s, möchte man sagen. Zumal die Folgen der Klimaerwärmung in kaum einer Region so drastisch und so existenzbedrohend ausfallen wie im Alpenraum. Dieser hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert doppelt so stark erwärmt wie der globale Durchschnitt. Für das Stanzertal mit Sankt Anton bedeutet das: Das Jahresmittel von 1,1°C im Jahr 1971 ist bis 2020 rapide auf 3° gestiegen. So ist die Schneesicherheit – nun mal Grundvoraussetzung für Alpinski – meist nur noch dank Beschneiung gegeben. In Italien werden 90 Prozent der Abfahrten mit Kunstschnee präpariert, in Österreich zwei Drittel, in der Schweiz deutlich über die Hälfte. Laut Internationaler Alpenschutzkommission CIPRA sind für 2,5 Kubikmeter Kunstschnee knapp 1.000 Liter Wasser nötig, für einen Hektar Piste also rund eine Million Liter Wasser.
Immerhin so ressourcenschonend wie möglich produzieren sowohl Davos als auch Sankt Anton ihren technischen Schnee. Effiziente, mit grünem Strom betriebene Schneekanonen auf 70, bzw. 88 Prozent der Pisten verwandeln ausschließlich Wasser aus Speicherseen in Kunstschnee. Der füllt im Frühling als Schmelzwasser die Bäche und Flüsse und wird wiederum für die Energiegewinnung genutzt. Dafür, dass nur so viel Kunstschnee wie wirklich benötigt erzeugt wird, betreiben beide Destinationen ein akkurates Schneemanagement, bei dem die Schneehöhe auf der Piste ausgemessen und der vorhandene Schnee optimal verteilt wird.
Autark in der Stromversorgung ist der Ort Sankt Anton bereits seit 2006 dank mehrerer Wasserkraftwerke. Ein mit Hackschnitzeln betriebenes Nahwärmekraftwerk beliefert seit 2020 große Teile des Ortes mit nachhaltig erzeugter Wärme, wodurch 1,3 Mio. Liter Heizöl im Jahr eingespart werden. „Für die Galzigbahn nutzen wir ein Wärmerückgewinnungssystem, bei dem die Abwärme des Seilbahnmotors für die komplette Beheizung der Bergstation und der Gastronomie genutzt wird“, führt Arthur Moser aus. „Wir leben von der Natur, wir müssen sie bewahren.“ So lautet nicht nur das Credo des Bergbahn-Prokuristen, sondern der meisten Einwohner am Arlberg. „Eigentlich alle hier hängen vom Tourismus ab, der Einzelhandel, das Handwerk, die Hotellerie und Gastronomie“, ergänzt Yannick Rumler. Zurück ins Armenhaus will hier niemand.
Auf einen Bewusstseinswandel bei der Bevölkerung setzt deswegen auch das Projekt „Klar! Arlberg Stanzertal“. Im Frühjahr 2021 haben sich die vier Orte des Stanzertals sowie der TVB zur Klimawandel-Anpassungs-Modellregion zusammengefunden und organisieren seitdem Klimastammtische, Baumpatenschaften für Schulkinder, pflanzen Klimahecken oder renaturieren gefährdete Weiher. Für seine Bemühungen, Tourismus und Nachhaltigkeit zu vereinen, hat die UN-Welttourismusorganisation Sankt Anton 2023 zum dritten Mal als „Best Tourism Village“ ausgezeichnet.
Ob Skifahren auch in Zukunft noch ein Massensport sein kann, hängt indes auch von den Wintersportlern selbst ab. In Davos haben sie mit dem „Cause-we-Care“-Modell, das vom myclimate Davos Klimafonds gefördert wird, die Gelegenheit, Umweltschutzmaßnahmen nicht nur einzufordern, sondern sie durch einen Gastbeitrag bei der Onlinebuchung auch zu finanzieren. Dieser wird von den Gastgebern verdoppelt und darf für Klimaschutzmaßnahmen im Betrieb verwendet werden oder fließt in schweizweite Klimaschutzprojekte. Eine der wichtigsten Stellschrauben, an denen Skifahrer selbst drehen können, ist indes die Anreise. 70 Prozent der CO2-Emmissionen eines Ferienaufenthaltes werden durch die Anfahrt mit dem eigenen PKW verursacht. Seltener kommen, aber länger bleiben, wäre eine erste Maßnahme. Auf die Bahn umzusteigen, eine effizientere.
Während die Anreise mit den Öffentlichen für Schweizer Wintersportler sowie auch für jüngere deutsche Skifahrer häufig bereits selbstverständlich ist, ist sie in Sankt Anton im Grunde ein Muss. Schließlich verfügt der Ort über einen eigenen ICE-Bahnhof, den höchstgelegen der Welt. Seit Dezember 2022 bringt der „Ski Express Tirol“ jeden Samstag deutsche Wintersportler (Startpunkt ist Hamburg) zum Arlberg. „Unser kostenloser Skibus, der eng getaktet durchs Stanzertal fährt und die Gäste von überall her in wenigen Minuten zum Lift bringt, macht ein Auto vor Ort völlig überflüssig“, sagt Rumler. Zwölf Prozent der Wintergäste kommen bereits (wie) auf Schienen nach Sankt Anton und knüpfen damit an die Anfänge des Tourismus am Arlberg an, den der Bau der Eisenbahnlinie vor 140 Jahren ja überhaupt erst eingeläutet hat.
©Die Bilder (sofern nicht anders angegeben) und Text dieser Recherche stammen von Gastautorin Susanne Böllert
Susanne Böllert
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